„Wie kommt ein Physiker dazu – noch dazu ein Ordinarius für theoretische Physik – sich Gedanken zu machen über die ‘Atomisierung der Gesellschaft’? Man sollte doch eher meinen, ein Physiker mache sich Gedanken über das Verhalten von Atomen oder Elementarteilchen. […] Die Quantentheorie ist ja entwickelt worden oder zu Ende formuliert worden Anfang der 20er-Jahre, also in jener Epoche, in jenem Dezennium, in dem auch die

Dialogphilosophie ihre wesentlichen Werke geschrieben hat. Und das ist vielleicht nicht zufällig. Denn die Quantentheorie, die sich in den 20er-Jahren Bahn gebrochen hat, hat genau so den Denkrahmen der Moderne überschritten […]. Und vor diesem Hintergrund hat eben Werner Heisenberg seinem jungen Freund Karl Friedrich von Weizsäcker folgenden Gedanken mit auf den Weg gegeben: ‘Wenn Du in unserem 20. Jahrhundert Philosophie machen willst, dann lerne zuerst das philosophisch wichtigste Ereignis des Jahrhunderts kennen – und das ist die moderne Physik!’ Und ich frage mich: Könnte man dieses Zitat aktuell vielleicht so abwandeln und im Sinne Ebners ergänzen: ‘Wenn man in unserem 21. Jahrhundert Physik machen möchte oder eine Naturwissenschaft, dann lerne man zuerst das philosophisch wichtigste Ereignis des 20. Jahrhunderts kennen – die Dialogphilosophie Ferdinand Ebners‘. Meines Erachtens hat nämlich Ebner etwas Analoges im Bereich der Philosophie vollzogen, analog zur Quantentheorie. Und gerade deswegen wird sein Grundgedanke – so meine Mutmaßung – so schwer verstanden oder angenommen, weil man die ungeheure Dimension der Überwindung des Denkrahmens der Moderne zwar de facto, jedoch in seinen erkenntnistheoretischen Konsequenzen so schwer anzunehmen bereit ist. Demnach wage ich die These […], dass Herbert Pietschmann das Ebnerisch angehauchte Buch ‘Die Atomisierung der Gesellschaft’ nicht deshalb geschrieben hat, weil ‘Physiker auch bloß Menschen’ sind – so ein weiterer Buchtitel von Herbert Pietschmann -, sondern gerade weil die Physik und damit alle Wissenschaft kein Weltbild aus sich generieren können, aber trotzdem ein Weltbild benötigen, um Physik und Wissenschaft treiben zu können. Genau dies sagt […] auch Ferdinand Ebner, nur viel schöner: ‘Die mathematisch formulierte Erkenntnis der Welt musste in ihrem letzten Ende zu Nichts führen. Dass die Wissenschaft diesen Weg niemals wirklich zu Ende geht hat vielleicht seinen Grund einzig darin, dass eben der Wissenschafter schließlich auch ein Mensch ist. Ein wissenschaftliches Weltbild aber gibt es überhaupt nicht. Alles Sein und alle Wirklichkeit ist im Wort, diesem diametralen Gegensatz zu aller mathematischen Formel. Wie begriffe das je die Wissenschaft? Und im Wort ist auch, was sie nicht hat und nicht geben kann: Das Bild der Welt’.“ (Erich Hamberger)

Ein Tondokument der Veranstaltung auf Audio-CD kann gegen einen Unkostenbeitrag von EUR 8.— hier bestellt werden. Mitglieder erhalten die CD zum Vorzugspreis von EUR 5.—. Die CD enthält den Vortrag von Herbert Pietschmann, die Einführungen von Walter Methlagl, Erich Hamberger und Ernst Pavelka sowie die gesamte Auditoriumsdiskussion.

Die Powerpoint-Präsentation Herbert Pietschmanns zu dem Vortrag finden Sie HIER (© Herbert Pietschmann)

Herbert Pietschmann im Haus der Begegnung der Diözese Innsbruck
Herbert Pietschmann am 16.4.2010 im Haus der Begegnung in Innsbruck.
(© Robert Kunz)

Das abendländische Denken

„Ich fahr’ in Wien mit öffentlichen Verkehrsmitteln und wer in Wien öfters die U-Bahn benutzt, der weiß ganz genau, was die ‘Atomisierung der Gesellschaft’ ist. Wenn die Leut’ dort also mit ihren ipods mit ihren Kopfhörern das Essen verspeisend da drinnen sitzen und auch gar ned merken, wenn sie mit übergeschlagenen Beinen einem die Hose schmutzig machen.“ (Herbert Pietschmann)

Nach in den Vortrag einleitenden Worten von Walter Methlagl, dem Präsidenten der IFEG, und Erich Hamberger, der für die IFEG den Kontakt zu Professor Pietschmann hergestellt hatte, erläuterte der Referent in eingängigem Wiener Jargon, was unter dem Begriff „Atomisierung der Gesellschaft“ zu verstehen sei. Er tat dies anhand eines Vergleiches zwischen der Kommunikationsstruktur der japanischen Gesellschaft mit der der westlichen Gesellschaften. Pietschmann bediente sich dabei eines Bildes, welches er von Makoto Kikuchi, dem Direktor des „Sony Research Center“ in Yokohama, übernommen hat:

Makoto Kikuchi: Vergleich der japanischen mit der westlichen Gesellschaft
„Das ist mein Bild der individualistischen, westlichen Gesellschaft, in der sich die Leute als getrennte Wesen betrachten (die großen Steine), relativ schwach an ihre Nachbarn gekoppelt (durch die schwachen Federn).“ (Makoto Kikuchi)

„Man kann die Menschen in einer Gesellschaft beschreiben als Steine und die Kommunikation zwischen Ihnen durch Federn. Und in der japanischen Gesellschaft sind die Steine klein und leicht und die Federn groß und stark. Und in der abendländischen Gesellschaft sind die Steine groß und schwer und die Federn leicht. […] Atomisierung heißt, dass diese Federn sich nahezu verflüchtigen, nur mehr die Steine vorhanden sind.“ (Herbert Pietschmann)

Herbert Pietschmann und Christian Paul Berger
Herbert Pietschmann im Gespräch mit dem Bregenzer Philosophen Christian Paul Berger über japanische Philosophie.Christian Paul Berger hat beim Ferdinand-Ebner-Symposium 2009 in Brixen/Südtirol einen vielbeachteten Vortrag über Ferdinand Ebner und den japanischen Philosophen Kitara Nishida gehalten.
(© Robert Kunz)

Das Phänomen der Atomisierung hängt nach Pietschmann mit der charakteristischen abendländischen Denkform zusammen. Diese beruht in wesentlichen Teilen auf der Aristotelischen Logik, welche den Denkrahmen der Moderne (Herbert Pietschmann) aufspannt:

Der Denkrahmen der Moderne: Die Aristotelische Logik
„Ein Konflikt entstand zwischen zwei verschiedenen Denkformen … Die eine war hauptsächlich aus dem Aristotelischen Axiom des ausgeschlossenen Dritten abgeleitet, der charakteristischen westlichen Logik des Entweder-Oder; die andere aus der Sicht, dass Gegensätze vereint sind in der Natur von Allem.“ (Chaturvedi Badrinath: Dharma, India and the World Order. Quelle: Herbert Pietschmann)

„Es ist nicht so, dass die eine [Denk]form gut ist und die andere schlecht. […] Denn ich glaube es gibt nichts in dieser Welt, das entweder gut oder schlecht ist. Das ist schon wieder unser Entweder-Oder-Denken. Sondern alles in der Welt hat vor und Nachteile und es gilt, nicht zu fragen, ist das gut oder schlecht, sondern es gilt bei allem, sich zu überlegen, wo nehmen wir die Nachteile in Kauf um der Vorteile willen und wo nicht. Das ist eine viel subtilere, schwierigere Frage, weil’s eine Frage der Grenzziehung ist, die noch dazu von Person zu Person verschieden sein kann und es bedarf einer Konsensbildung um zu einer allgemeinen Meinung zu kommen.“ (Herbert Pietschmann)

So habe das Entweder-Oder des abendländischen Denkens zwar immense Vorteile, wie u. a. den wissenschaftlichen Fortschritt der Moderne, doch werde es von andern Kulturen oft als hart wahrgenommen und mache es uns zudem unmöglich, weichere, feinere Nuancen in der Welt wahrzunehmen. Bei all den Vorteilen die es hat, übersehen wir nun leicht, dass es sich bei der Aristotelischen Logik, auf der es beruht, lediglich um Regeln des Denkens handelt:

„Wir haben eigentlich keine Einsicht in die Regeln unserer Logik, weil uns gar nicht bewusst ist, dass das Regeln des Denkens sind. Sondern wir sind immer der Meinung, das ist die einzig vernünftige Art zu denken! […] Wir sind aber die einzige Kultur, die der Meinung ist, es gibt nur eine einzige Art, richtig zu denken- und das ist unsere.“ (Herbert Pietschmann)

Aporien des Denkens

Aporien sind logische Ausweglosigkeiten. Sie haben das Denken sowohl von Aristoteles’ Lehrer Platonals auch von dessen Lehrer Sokrates bestimmt.

“Sokrates und Platon […] haben gefragt: Was sind die wesentlichen Widersprüche, die wir beachten müssen, um den Menschen zu verstehen? Und diese wesentlichen Widersprüche können Fehler sein. Es gibt Situationen, wo’s Entweder-Oder-Denken richtig ist, nicht. Aber es gibt Situationen, insbesondere, wenn’s auf den Menschen ankommt, wo Widersprüche geradezu wesentlich für das Verständnis sind. Solche Widersprüche heißen seit Sokrates Aporie. […] Wir sagen, weil wir dieses Wort verdrängt haben aus unserem Sprachschatz […]: ‘Das ist ein Problem von Henne und Ei’” (Herbert Pietschmann)

Das Cartesianische Denken und die Entstehung der Naturwissenschaften

Wesentlichen Anteil am Ausschluss von Aporien aus dem abendländischen Weltbild hatte das Denken von René Descartes. Seine Suche nach einem unbezweifelbaren Grund alles Denkens hatte ihn zum „Cogito ergo sum“, „Ich denke, also bin ich“ geführt. Dieses wiederum hatte die Unterscheidung zwischen „res cogitans“ und „res extensa“, zwischen „denkendem Sein“ und „ausgedehntem (materiellem) Sein“, zwischen Geist und Materie zur Folge gehabt.

„[D]iese Trennung von Geist und Materie war ein wesentliches Element auch beim Entstehen der Naturwissenschaften, weil die Galiläische Methode [Das naturwissenschaftliche Experiment, Anm.] nur für die Materie funktioniert – und für den Geist überhaupt nicht. Nachdem man jetzt so eine schöne Einteilung gehabt hat, hat man also gesagt: Na wenigstens für die Materie ham wir eine Methode!“ (Herbert Pietschmann)

Das Cartesianische Weltbild scheiterte aber schon eine Generation später am Newtonschen Weltbild. Denn das, was Issac Newton mit dem Begriff „Schwerkraft“ bezeichnete, übt weder eine sichtbare Wirkung auf die Gegenstände aus, noch ist es ausgedehnt. Newton wurde deswegen von den Anhängern Descartes’ als Spiritist verteufelt.

Der Denkrahmen des Abendlandes

Aus dem Aristotelischen sowie aus dem seit dem 17. Jahrhundert entstehenden naturwissenschaftlichen Weltbild, beruhend auf der Methode des Galileischen Experiments, entwickelte sich der Denkrahmen der Moderne:

Der Denkrahmen des Abendlandes

Dieses Denken bietet Vorteile. Aber es „hat den Nachteil, dass es uns sogar von uns selbst entfremdet. Nicht nur von anderen Menschen, sondern sogar uns von uns selbst.“ (Herbert Pietschmann)

Herbert Pietschmann
Herbert Pietschmann (© Robert Kunz)

„Stellen Sie sich vor, Sie wachen in der Früh auf und es ist Ihnen heiß und Sie haben Schweißperlen auf der Stirn, zittern vielleicht vor Schwäche usw. Dann werden Sie sich sicher sein, dass Sie Fieber haben. Das ist sozusagen Ihre unmittelbare Begegnung mit sich selbst: ‘Ich hab’ Fieber!’ Aber Sie werden es […] dabei nicht bewenden lassen, sondern getreu der Forderung unseres Denkrahmens werden Sie Fieber messen. Und jetzt stellen Sie sich vor, das Fieberthermometer zeigt 36,8 °C. Na, dann werden Sie wahrscheinlich – Jetzt müssen wir auf die größere Form gehen! – schau’n, ob Sie noch ein Fieberthermometer haben. Und wenn Sie noch eins haben und das zeigt auch 36,8 °C, dann werden Sie sich denken: ‘Komisch, ich habe gedacht, ich hab’ Fieber! In Wirklichkeit habe ich keines!’ Das heißt […]: Was wir als ‘Wirklichkeit’ bezeichnen, ist nicht mehr unsere unmittelbare Begegnung mit uns selbst, mit anderen und mit der Welt, sondern das, was der Denkrahmen uns konstruiert. Dieser Denkrahmen ist das Werkzeug zur Konstruktion der Wirklichkeit.“ (Herbert Pietschmann)

Die Dialektik der Differenz und die H/X-Verwirrung

„Dieser Denkrahmen hat bedauerlicherweise auch einen Automatismus: Das ist eben das Entweder-Oder-Denken […]. Wenn wir nämlich eine Unterscheidung finden – und jede Unterscheidung ist zunächst einmal eine Bereicherung – […], dann trennen wir sofort die beiden Teile, die zu unterscheiden sind, bewerten sie. Welcher Teil ist für mich gut und welcher ist schlecht? Den schlechten grenzen wir aus oder verdrängen ihn sogar, werten ihn ab oder vernichten ihn. Deswegen schlage ich vor, und ich hab’ selber für mich das zur Maxime gemacht […]:“

Unterscheide, ohne zu trennen!

„[D]iese Maxime Unterscheide, ohne zu trennen! genügt nicht. Denn das, was wir unterscheiden, gehört ja eigentlich zusammen. Sonst müsst’ man’s ja nicht unterscheiden, wenn’s von vornherein getrennt wäre. Und das ist jetzt mein Modell, das ich für dialektisches Denken erfunden habe […]:“

Herbert Pietschmann: Dialektik der Differenz
Das Modell der Dialektik der Differenz. Dieses Modell hat sich mittlerweile sehr bewährt und wird unter anderem an der Wirtschaftsuniversität Wien gelehrt.
(© Herbert Pietschmann)

„Die zweite Maxime, die unbedingt dazugehört, heißt: Vereine, ohne zu egalisieren! […] Dieses H soll andeuten, dass Trennen, wie ich sage, der ‘Schatten’ von Unterscheiden und Egalisieren der ‘Schatten’ von Vereinen ist. Und wenn es gelingt, einen Balken zu finden, dann sind wir auf dem Weg zu einer Synthese […]. Denn unterscheiden und vereinen bilden eine Dialektik. Sie sind nicht von vornherein widerspruchsfrei zusammen auszuführen. […] In der Dialektik gibt es ein ehernes Gesetz: Es ist nie möglich, sofort zu einer solchen Synthese zu kommen. Denn zuerst gibt es immer das, was ich die ‘H/X-Verwirrung’ nenne. Statt des H steht nämlich ein X:“

Herbert Pietschmann: Die H/X-Verwirrung
Die H/X-Verwirrung (© Herbert Pietschmann)

„Das ist folgender Prozess: Diejenigen, die mehr für’s Unterscheiden sind, kämpfen gegen das Egalisieren und trennen. Und diejenigen, die mehr für’s Vereinen sind, kämpfen gegen das Trennen und kommen ins Egalisieren. […] Und es entspinnt sich ein Kampf zwischen zwei Parteien, wo beide Recht haben. Und es wäre schlecht, wenn eine Seite gewönne! Denn dann wären wir wieder im Entweder-Oder-Denken. […] Das heißt: Dieser Kampf muss so lang ausgefochten werden – und das kann sehr lange dauern und sehr schmerzhaft sein […] – bis beide Seiten einsehen: Der Feind des Unterscheidens ist nicht das Egalisieren, sondern der Feind des Unterscheidens ist das Trennen. Und der Feind des Vereinens ist nicht das Trennen, sondern der Feind des Vereinens ist das Egalisieren. Wenn beide Seiten das eingesehen haben, dann kann es zu einer Synthese kommen und die H/X-Verwirrung überwunden werden.“ (Herbert Pietschmann) Das Modell der Dialektik der Differenz lässt sich dabei für die verschiedensten Bereiche durchspielen.

Dass dieses Denken zutreffend ist und das Trennen und Isolieren des Descartes’schen Weltbildes nicht aufrechterhalten werden kann, dafür gebe es Hinweise aus der Quantenphysik. So heißt es bei Erwin Schrödinger:

Herbert Pietschmann zitiert Erwin Schrödinger
Herbert Pietschmann zitiert Erwin Schrödinger: „Wenn zwei Systeme in Wechselwirkung treten, treten … nicht etwa ihre ψ-Funktionen in Wechselwirkung, sondern die hören sofort zu existieren auf und eine einzige für das Gesamtsystem tritt an ihre Stelle.“
(© Robert Kunz)

„Wenn zwei Systeme in Wechselwirkung treten – Wir können das durchaus einmal in Analogie sehen wenn zwei Individuen in Kommunikation treten. Das ist also das atomare Analogon davon (Pietschmann) – […] treten nicht etwa ihre ψ-Funktionen – das ist die mathematische Berschreibung davon (Pietschmann) – in Wechselwirkung, sondern die hören sofort auf zu existieren und eine einzige für das Gesamtsystem tritt an ihre Stelle.“ (Erwin Schrödinger)

Ergebnisse der Quantenphysik sind allerdings lediglich als ein Hinweis auf ein anderes Denken zu verstehen, als ein Hinweis darauf, dass das Aristotelische Entweder-Oder „zu kurz schießt, selbst um die Materie zu beschreiben“ (Herbert Pietschmann).

Die Dialektik der Gesellschaft

Das Nichtvorhandensein des Entweder-Oder zeigt sich nun im japanischen Denken dort, wo der Mensch nicht individualistisch verstanden wird. Beim japanischen Germanisten Ryogy Okochi heißt es:

„Der Japaner sieht den Ort, wo das Wesen des Menschen sich zeigt, nicht als den Ich-Punkt, den Körper-Ort, sondern als das Dasein in der Gestalt von Zwischenraum zwischen den Menschen.“

Und weiter:

„Das japanische Denken begreift den Menschen nicht an sich solipsistisch, sondern in seiner ‘Zwischenhaftigkeit’.“

Nin-gen: Der Mensch als Zwischen
Nin-gen: Oben das Zeichen für Mensch, unten das Zeichen für Zwischen. Das Zeichen für Zwischen setzt sich zusammen aus einer Sonne, die durch ein Tor sichtbar wird. „Wenn die Sonne also zwischen den Torpfosten steht, dann ist sie ebenzwischen. […] Und das ganze als Wort heißt Nin-gen, der Mensch als Zwischen.“ (Herbert Pietschmann)

„In dieser Nicht-Ichhaftigkeit existiert der Mensch als ‘Ichloses Ich’.“ (Ryogy Okochi)

„‘Ichloses Ich’ ist ein Widerspruch. Sie [sc. die Japaner] sind der Meinung, nur mittels eines Widerspruches ist der Mensch wirklich zu erfassen.“ (Herbert Pietschmann)

Herbert Pietschmann im Gespräch mit dem Auditorium
Herbert Pietschmann im Gespräch mit Mitgliedern des Auditoriums
(© Robert Kunz)

Daraus ergibt sich die Dialektik der Gesellschaft:

Herbert Pietschmann: Die Dialektik der Gesellschaft

„Gesellschaft besteht aus Individuen und die müssen eine Gemeinschaft bilden. […] Und der Schatten, wenn man nur das Individuum betrachtet, ist das, was ich den gelebten Solipsismus genannt habe. […] Und der Schatten der Gemeinschaft, wenn die Individuen vernachlässigt sind, […]: ‘Du bist nichts, Dein Volk ist alles!’ Da gäbe es andere Möglichkeiten auch, etwas anderes herzuschreiben: ‘Ameisenismus’ z. B. Die Schule um Arnulf Rainer und Hundertwasser, die haben als junge Studenten […] ein Manifest geschrieben ‘Wider den Ameisenismus!’ […] Da gibt es eben dann die H/X-Verwirrung, dass man aus Angst vor dem Mißachten des Individuums in den gelebten Solipsismus fällt und umgekehrt.“ (Herbert Pietschmann)

Das Ich-Du-Verhältnis bei Ferdinand Ebner

Bei Ferdinand Ebner heißt es nun:

„Was für eine Bewandtnis aber hat es nun mit dem eigentlichen Ich? Die Sache ist sehr einfach: dessen Existenz liegt nicht in seinem Bezogensein auf sich selbst, sondern […] in seinem Verhältnis zum Du.“

„Das ‘wirkliche’ Ich existiert nur in seinem Verhältnis zum Du […] Seine ‘Einsamkeit’ ist niemals eine absolute, sondern immer nur eine relative. Sie ist […] das Ergebnis eines geistigen Aktes […], seiner Abschließung vor dem Du.“

Ebner wendet sich darin genau gegen die folgende H/X-Verwirrung:

Herbert Pietschmann: H/X-Verwirrung von Ich und Du

„Der Schatten der Verabsolutierung des Ich […] ist die Ich-Einsamkeit. Und der Schatten, dass ich […] das Du nicht als auch Ich ernst nehme, […] ist das Pseudo-Du (Erich Hamberger)“

Einen Hinweis auf die Gefahr der Ich-Einsamkeit findet sich auch in Leibniz‚ „Monadologie“. Dort steht der berühmte Satz „Die Monaden haben keine Fenster, durch die etwas hinein- oder heraustreten kann.“ Pietschmann illustrierte die Erfahrung der Ich-Einsamkeit mit einem Erlebnis aus seiner Kindheit:

„Als ich ein Kind war […] ist mir plötzlich bewusst geworden, dass das, was ich als rot sehe, ja nicht notwendigerweise andere Menschen auch als rot sehen. Sondern vielleicht sehen sie das, was ich als rot sehe, blau. Nur wir haben uns geeinigt, dass wir das rot nennen, d’rum nennen wir’s alle rot. Aber der subjektive Inhalt könnte ja doch von jedem und jeder anders gewesen sein.“

Für Leibniz lag die Lösung des Problems in der Prästabilierten Harmonie. Demnach ist jede Monade ein Abbild der Urmonade Gottes, durch welche Partizipation die Verständigung zwischen den Monaden garantiert wird. Eine Lösung, die von Pietschmann als veraltet abgelehnt wurde und ihn zu einer neuen Lösung geführt hat:

Die Synthese der H/X-Verwirrung von Ich und Du bzw. Ich-Einsamkeit und Pseudo-Du

Am Beginn von Herbert Pietschmanns Ausführungen einer Synthese von Ich und Du stand eine Kritik am „cogito ergo sum“ Descartes.

Nach Keiji Nishitani, einem Philosophen der Kyoto-Schule, habe das „Cogito ergo sum“ zweifellos seine Vorteile darin gehabt, die Subjektivität des Individuums in der rechten Weise gedanklich zu umreißen. Allerdings hätte es auch die Problematik, welche dem neuzeitlichen Ich zugrundeliegt und die sich mit dem Ausdruck „Ich-Einsamkeit“ beschrieben lässt, verdeckt. Ein Experiment Kaiser Friedrichs II.) verdeutlicht eindrücklich die dramatischen Auswirkungen menschlicher Isolation:

„Kaiser Friedrich II. wollte wissen, in welcher Sprache Säuglinge zu sprechen beginnen, die noch nie ein menschliches Wort gehört haben. Und er hat einer Anzahl Wärterinnen und Ammen eine Anzahl verwaister Neugeborener übergeben und ihnen gesagt, sie müssen ihnen die Brust reichen, sie pflegen, dürfen vor ihnen kein Wort sprechen, sie nicht liebkosen und ihnen überhaupt keine positiven Emotionen zuwenden. Das Experiment ist natürlich schiefgegangen, denn die haben nicht zu sprechen begonnen, sondern sind alle gestorben. Das heißt die Menschen konnten nicht leben ohne die freundlichen Mienen und Liebkosungen ihrer Wärterinnen und Ammen. Das heißt, das ‘cogito ergo sum’ ist eben im Vakuum. Denn ich denke nur deshalb, weil’s einmal eine Frau gegeben hat, die mich nach der Geburt liebevoll großgezogen hat. […] Sonst komm’ ich gar nicht dazu, vernünftig zu denken!“ (Pietschmann)

Das „cogito ergo sum“ möchte Pietschmann daher ersetzt wissen durch:

Communico ergo sumus!

Communico ergo sumus „ist ein Widerspruch in sich. Es heißt nämlich: Ich kommuniziere also sind wir. Man kann auch sagen: Wir kommunizieren also bin ich. Ich meine aber nicht: Ich kommuniziere also bin Ich. Und auch nicht: Wir kommunizieren also sind wir. […] Die Einsamkeit und die Gemeinsamkeit sind aneinander gekoppelt und nicht voneinander trennbar.“

Der Widerspruch ist allerdings Teil der Realität selbst. Bei Kitaro Nishida heißt es:

„Die Realität ist eine Einheit, die den Widerspruch in sich fasst. … Für den Aufbau der Realität sind die … fundamentale Einheit und die gegenseitige Opposition, ja der Widerspruch notwendige Voraussetzungen.“ (Kitaro Nishida)

Ein Gedanke, der sich auch beim deutschen Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel festmachen lässt. Bei ihm geschieht die Aufhebung eines Widerspruches in drei Schritten:

1. Aufheben im Sinne von Bewahren wie ein Andenken
2. Aufheben im Sinne von Ungültig machen wie ein Gesetz
3. Aufheben im Sinne von höher heben, im Sinne der Entstehung von etwas Neuem

Das Neue, das im Sinne des dritten Hegel’schen Schrittes entsteht, bezeichnet Pietschmann nun als „Aporon“:

Herbert Pietschmann: Aporon

„Ich behaupte eben: Der Mensch ist kein Individuum, der Mensch ist kein Solipsist und überhaupt nicht in der Ich-Einsamkeit, wenn er wirklich sein Menschsein verwirklichen möchte, sondern er ist ein Aporon, die widersprüchliche Einheit von Individuum und Kommunikation. Wobei jedes das andere voraussetzt so wie Henne und Ei.“ (Herbert Pietschmann)

Das Auditorium
Das Auditorium in der Schlussphase des Vortrages von Herbert Pietschmann.
(© Robert Kunz)

Am Ende der Veranstaltung stand eine ungefähr vierzigminütige Auditoriumsdiskussion, in der der Referent sein Konzept der H/X-Verwirrung an den verschiedensten Themen durchspielte.

Bilder der Veranstaltung

Herbert Pietschmann und das österreichische Bildungswesen
Herbert Pietschmann und die H/X-Verwirrung im Bildungswesen: „Wir wissen seit Sokrates, was Bildung ist und zu sein hat, aber es wird nie beachtet. Der berühmte Erziehungswissenschaftler Karl Rogers hat das Konzept von Sokrates wieder aufgenommen und zu verwirklichen versucht […]. Es ist relativ einfach. […] Es gibt Lehren und Selbst-lernen. Und der Schatten von Lehren ist impotentes Wissen, der Schatten des Selbstlernens ist die Spielerei. […] Vernünftig ist natürlich nur eine Synthese von beidem.“
(© Robert Kunz)

Herbert Pietschmann und Walter Methlagl
Herbert Pietschmann mit dem Obmann der Internationalen Ferdinand-Ebner-Gesellschaft, Walter Methlagl. Walter Methlaglist Gründer und war langjähriger Leiter des Forschungsinstituts Brenner-Archiv der Universität Innsbruck, welches den Nachlass Ferdinand Ebners beherbergt.
(© Robert Kunz)

Herbert Pietschmann und Erich Hamberger
Herbert Pietschmann im Gespräch mit dem Salzburger Kommunikationswissenschaftler Erich Hamberger. Die Internationale Ferdinand-Ebner-Gesellschaft hat Erich Hamberger den Kontakt zu Herbert Pietschmann zu verdanken.Hamberger waren nach der Lektüre von Pietschmanns letztem Buch „Die Atomisierung der Gesellschaft“ die frappanten Überschneidungen von wesentlichen Gedanken des Referenten mit denen von Ferdinand Ebner aufgefallen.
(© Robert Kunz)

Herbert Pietschmann im Gespräch mit Besuchern seines Vortrages
Herbert Pietschmann im Gespräch mit zwei Besuchern seines Vortrages. In der Hand der Dame des Referenten letztes Buch „Die Atomisierung der Gesellschaft“.
(© Robert Kunz)

Herbert Pietschmann signiert ein Exemplar seines letzten Buches „Die Atomisierung der Gesellschaft“
Herbert Pietschmann signiert ein Exemplar seines letzten Buches „Die Atomisierung der Gesellschaft“.
(© Robert Kunz)

Büchertisch
Das Auditorium belagert den reich gedeckten Büchertisch, der von Schriftführer Ernst Pavelka und Kassier RichardHörmann betreut wurde. Sämtliche Bücher können auch über den Webshop der Internationalen Ferdinand-Ebner-Gesellschaft bestellt werden.
(© Robert Kunz)

Büchertisch
Der vor dem Vortrag noch jungfräuliche Büchertisch. Sämtliche Bücher können auch über den Webshop der Internationalen Ferdinand-Ebner-Gesellschaft bestellt werden.
(© Robert Kunz)

Diese Veranstaltung wurde ermöglicht mit freundlicher Unterstützung von:

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bongusto! Aus Liebe zum Essen.


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