Ebner in Pandemie

Zum 70 jährigen Jubiläum muss Ebner Maske tragen… Undialogisch? Gestaltung: Grafik Johannes Ebner

Die Ferdinand Ebner – Büste, die in seiner Schule in Gablitz im Gang steht, ist neuerdings mit Maske bekleidet worden. Ein Widerspruch zu seiner Dialogik und Zeichen einer undialogischen Zeit? Wäre er selbst bei dem Anblick rasend geworden? Die immer neuen Ereignisse rund um die Corona-Pandemie lassen uns freilich Ferdinand Ebner und seine Welt ganz fern und fremd erscheinen. Dennoch sind seine Erfahrungen, wie wir sie in seinem Tagebuch 1918 beschrieben finden, den unseren überraschend ähnlich. Und wir stellen mit Erstaunen fest: Möglicherweise haben die Pandemie-Erlebnisse des Gablitzer Lehrers zur Prägung seines dialogischen Denkens beigetragen… Hier haben wir jedenfalls Ebners Notizen unter bestimmte Stichworte gestellt.

Fieber – Icheinsamkeit – Shakespeare

Dienstag 8. Oktober 18. Ich habe wieder einmal irgend einen Katarrhe der Luftwege und meldete mich vorsichtshalber – angesichts nämlich des Umsichgreifens der spanischen Grippe – gestern nachmittags beim Chef krank. Ich hüte das Zimmer und lasse mir auch das Essen heraufbringen. Gelesen Shakespeares Coriolan. Mir ist’s, als finge ich jetzt erst an, die geistige Bedeutung Shakespeares zu begreifen. Seit mir das Wesen und der Sinn der „Icheinsamkeit“ der menschlichen Existenz klar geworden ist.

Freitag 19. Juli 18. Gestern früh nach Neustadt und heute mittags zurück. Todmüde heimgekommen, vielleicht hätte ich nicht fahren sollen, wegen der „spanischen Krankheit“. Ich habe mich diese zwei Tage sehr unwohl gefühlt, besonders gestern abends. Ich legte mich sehr früh zu Bett … Das muß so eine Art Fieberanfall gewesen sein, der aber in einer halben Stunde seinen Höhepunkt erreichte, worauf sofort eine seltsame Erleichterung eintrat.

Schulsperre – Eingesperrtsein – Liebe

Samstag 12. Oktober Unterrichten vor leeren Bänken. Das ist ja noch ärger als im Sommer.

Montag 14. Oktober 18. Die Schule wegen der spanischen Grippe eine Woche gesperrt. Das war mir keine unangenehme Überraschung heute morgens.

Sontag 20. Oktober 18. Verlängerung der Schulsperre um eine Woche – was mir willkommen ist. Ich mag nicht mehr in die Schule gehen und wollte, ich hätte sie ganz los.

Sonntag 27. Oktober 18. Hier fand ich einen Brief von Luise und eine Karte vom Schach vor und hörte, daß die Schulsperre abermals um eine Woche verlängert worden sei.

Sonntag 8. Dezember 18, morgens. Ich komme wieder auf das Omen meines Urlaubsanfanges zurück, das mir das Eingesperrtsein in Gablitz verhieß.

Montag 2. Dezember 18. Aber – das fürchterliche Grauen vor der Einsamkeit, vor dem endgültigen Eingesperrtsein in Gablitz!

Montag, 3. Juni 18. Die wahre Liebe ist nicht etwas in uns Eingesperrtes. Sie trägt sich immer zwischen dem „lch“ und dem „Du“ zu.

Quarantäne – Geheimnis – Strindberg

Dienstag 16. Juli 18. Gestern nach dem Nachtmahl noch im Kaffeehaus – trotz der „spanischen Krankheit“, die ich vermutlich jetzt auch habe. Heute vormittag im Strindberg [„Nach Damaskus“] lesend, dies und jenes notierend.

Donnerstag 31. Oktober 18. Das Geheimnis der spanischen Grippe, wo sie sich nämlich zu einer den raschen Tod herbeiführenden Lungenentzündung kompliziert: Die Lungenpest??

Jammer – Karl Kraus – das Wort

Sonntag 16. Juni 18. Erwartet hab ich den unerfreulichen Gast im Jänner schon, gekommen ist er aber erst in den letzten Tagen. Der Hunger nämlich. und dazu auch nichts zu rauchen – –

Montag 21. Oktober 18. Der geistige Jammer dieser Zeit ist furchtbar. Und er ist ja das eigentliche Furchtbare dieser Zeit inmitten des ganzen physischen Jammers, den dieser Krieg über das Abendland gebracht hat und der aus nichts anderem als dem geistigen Jammer und Notzustand herausgewachsen ist. In dieser Zeit und ihrem Jammer ist eine Erscheinung wie die des Karl Kraus wahrlich eine geistige Notwendigkeit. Und doch ist er nicht derjenige, der das letzte Wort ausspricht, das Wort, in dem diese Zeit sich selbst bis in die letzten Wurzeln ihrer Geistesverlorenheit verstehen müßte.

Und Hauptsache Geduld!

Dienstag 18. Juni 18. Hauptsache wäre, daß die Bevölkerung nicht die Geduld verliert. Der Ministerpräsident aber hofft zuversichtlich. Das tut der Staat immer … auch im Augenblick des Weltuntergangs.

 

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